Meine Figurenaufteilung ist ganz einfach. Ich habe meine Protagonistin. Dann ihren Lover. Und einen Antagonisten. Den netten Roland, der sich total in seine Gefühle verstrickt und überzeugt ist, dass ich mich im Love Interest vertan habe. Alle anderen sind Nebenfiguren. Statisten.
Aber schon in der ersten Szene wird klar. Ohne Kevin, den Räuber, gäbe es keinen Anfang. Elli wäre wie immer einkaufen gegangen, hätte sich zuhause einen Tee aufgebrüht und sich mit ihrem Krimi aufs Sofa gemütlich gemacht. Echt spannend.
Diese Geschichte würde ich auch nicht lesen wollen.
Doch zurück zu Kevin, mit dessen krimineller Energie ich nicht gerechnet hatte. Ehrlich. Vom ersten Moment an drängt sich meine Nebenfigur in den Plot rein, denn er hat das Ziel, alles, was sich Elli mühsam aufgebaut hat zu zerstören. Ihren geliebten Job, die aufkeimende Liebe, ja sogar Ellis Leben, wenn sie nicht aufpasst. Kurz: Dieser unsympathische Zeitgenosse ernennt sich selbst zum Antagonisten, was ich nach läppischen 300 Seiten dann auch mal merke. Meine ausgeklügelte Rollenverteilung ist im Eimer, die Geschichte ins Abseits manövriert.
Was nun? Ich erwäge, den Laptop zu verschenken und auf ein erfolgversprechenderes Hobby umzusatteln. Putzen zum Beispiel. Oder Puzzles machen, was eine ungemein befriedigende Beschäftigung ist, wenn sich nicht das allerletzte Teil unter das Sofa verirrt hat. Und ich bereue zutiefst, meinen künstlichen Besserwisser nicht vorher gefragt zu haben.
Nach langen Abwägungen stürze ich mutig Kevin von seinem selbsternannten Antagonisten-Podest, weise ihn auf seinen Nebenfigurenplatz und bekenne mich endlich zu Roland. Geschafft. Ich lehne mich erleichtert zurück. Doch habe ich mich zu früh gefreut, denn beim erneuten Durchlesen stelle ich fest: Da will sich noch jemand Unbefugtes in den Vordergrund drängen. Ellis Mama. Ohne sie wäre Elli ja gar nicht da und die Geschichte hätte nicht erzählt werden können. Wie ein Mahnmal erinnert die depressive Mutter Elli an ihre Verantwortung, ihre Schuldgefühle und verkörpert alles, was Elli davon abhält, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Keine andere Nebenfigur beherrscht so perfekt die Kunst, mit einem einzigen Seufzer Ellis Stimmung ins dritte Untergeschoss zu befördern. Sie hat eine unverzichtbare Rolle, ohne Zweifel. Aber welche Nicht-Stiefmutter würde bewusst der eigenen Tochter Steine in den Weg legen? Eben. Ellis Mama muss einsehen, dass sie wie so viele auf dieser Welt trotz unbestrittenen Potenzials noch nicht zu Höherem berufen werden kann. Ich atme auf. Da fällt mir ein. Jemand fehlt noch, denn was wäre eine Protagonistin ohne sie? Die beste Freundin, natürlich!
Und wie das mit besten Freundinnen so ist: Sie will nur Ellis Bestes. Während Elli grübelt, plant und sich wie ein Aal um ihre Gefühle windet, bringt Svetlana die Dinge auf den Punkt. Ob es um Ellis Bekanntschaften, ihre Zukunft oder die Farbe ihres T-Shirts geht – Svetlana sagt’s, wie es ist. Ungeschminkt und nicht immer zimperlich, so dass Elli doch hinhört – manchmal.
Ganz im Vertrauen: Die eine oder andere Nebenfigur fordert meine schriftstellerischen Fähigkeiten zeitweise ganz schön heraus. Dennoch würde ich nicht auf sie verzichten wollen, denn ohne sie hätte Elli keine Möglichkeit, sich selbst an die Nase zu nehmen, sich zu entwickeln oder fast widerwillig zu ungeahnten lebensverändernden Erkenntnissen zu gelangen. Nebenfiguren mögen vielleicht „neben“ der Hauptfigur stehen, aber eine Nebensache sind sie beileibe nicht.
